Die Kunst sich das Leben zu nehmen - ein Plädoyer fürs Lebendig Sein
- Novalisa von Stutenberg
- 15. Nov. 2024
- 31 Min. Lesezeit
Oktober 2024
“Denn in der Kunst haben wir es mit keinem bloß angenehmen oder nützlichen Spielwerk, sondern mit einer Entfaltung der Wahrheit zu tun.”
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Vorwort aus der Badeanstalt
Um von vornherein möglichen Hemmungen entgegenzuwirken, lasse ich sie, meinen geschätzten Leser, von Anfang an wissen, das was sie hier lesen, hat nichts zu bedeuten. Selbst wenn sie kurz meinen wollten, hier oder da sei ein tieferer Sinn eingebaut – dem ist nicht so. Auch werden sie leer ausgehen, was Ratschläge oder dergleichen sein könnte. Das höchste der Gefühle in dieser Hinsicht, wäre die Empfehlung, das hier im FKK Bereich zu lesen. Hier wird ihnen nichts empfohlen, verkauft, nicht einmal etwas angeboten. (Dieser Tage eine Seltenheit, nicht wahr?). Und vielleicht wird sie das erleichtern: Wissen oder treffender – Bildung wird nicht vorausgesetzt, um zu verstehen – zumindest nicht das ich wüsste. Verstehen sie? Gut (das macht ja nichts – keiner hat ihre Antwort gehört), wie auch immer sie lauten mochte, möchte ich es erläutern:
Steht man das erste mal in seinem Leben auf einem Zehn-Meter-Sprungbrett und möchte sich dazu bringen den Sprung zu wagen, wird wohl kaum einer, der am Erfolg der Unternehmung interessiert ist, sagen: Das wird schief gehen, das kann ich nicht, ich bin ja kein 10-Meter Brett Springer. Wohl eher das Gegenteil. Gut, vielleicht stehen wir hier noch mit einem Bein im Bereich der Autosuggestion. Ein kunstreicher Trick? Eine Spielart der Hochstaplerei? Es soll hier nicht um das gern bemühte Grenzen-Ziehen gehen. Im Gegenteil, wir wollen das Thema auffächern und sehen, wie sich was vermischt! Und sollten wir auf eine Grenze stoßen - setzen wir alles daran, sie zu überschreiten – denn das Land dahinter, das suchen wir. Behalten wir im Verlauf etwas Wasser als Lösungsmittel bei und haben so immer ein kleines bisschen aus der Badeanstalt parat - ich weiß, das kann nützlich sein.
Ehe ich sie entlasse und mit dem hier alleine lasse, möchte ich, auch wenn ich ihre Geduld (sie sind auf mein Plädoyers sicher wahnsinnig gespannt) bereits heraus gefordert habe, noch ein Geständnis machen. Ich klaue. Nicht irgendwas, das bräuchte sie sonst kaum zu interessieren. Es handelt sich um nichts Geringeres als ihre eigene Stimme. Selbst wenn sie leise nur für sich lesen, ist ihre stumme Stimme in ihrem Kopf nun mein Text. Ich klaue einen Platz in ihren Gedanken, der nicht länger ihnen allein gehört. Das tut mir nicht einmal leid, denn damit ist das, was sie im folgenden Lesen werden, nicht allein mein Werk – es ist unseres, meine Buchstaben und ihre Lesestimme. Während ich mich ihnen offenbare, bleibt ihr Anteil an unserer Arbeit bei ihnen. Das gönne ich ihnen von ganzem Herzen. Nehmen Sie gelegentlich einen Schluck Wasser (nicht das aus der Badeanstalt) oder Wein zu sich und fühlen wir uns so miteinander verbunden.
Mit dem Ausdruck meiner ganzen Hochachtung, die ihnen als meinem Leser gebührt, ihre ergebene
Novalisa von Stutenberg
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Im Krankenhaus (P1)
Nach einem Unfall liegt eine junge Patientin im zarten Alter von 5 Jahren im Krankenhaus. Auf dem Spielplatz war sie, die Rutschbahn selbst (statt an der Leiter) immer wieder empor geklettert, heruntergerutscht und wieder hochgeklettert. Immer wieder. Freilich hat sich das enorm auf das Verhältnis Rutsch -und Hochkletterzeit ausgewirkt. War sie wohl heruntergerutscht, um hochzuklettern? Ohne den Anschein, dass sie darüber nachdachte, hatte sie es so - bis sie zuletzt einem entgegenkommenden Jungen ausweichen musste und schließlich herunterfiel, getan. Schädelbruch. Die Ärzte waren von den besten Genesungschancen überzeugt. Bald war sie auf einer Station mit einigen anderen im großen Gemeinschaftszimmer untergebracht.
Zeichen, die sie nicht verstand, umgaben sie jetzt: Bunte Bilder an den Wänden, fragile Mobiles, Girlanden in wiederkehrenden, seltsamen Formen kreuz und quer den Raum durchzogen – vielerlei aus Kinderhände Gebasteltes. Für die Kleine Patientin bunt und unheimlich. Auf Wunsch der Mutter blieb sie, wie ihre beiden Schwestern, dem Kindergarten fern. Die Schwestern waren in diesen Jahren ihre Begleiter, Freunde und Feinde gewesen. Beklemmend und magisch erschien ihr diese Kulisse. Die andauernde Anwesenheit eines fremden Mannes - der Vater einer anderen Patientin - brachte sie aus Furcht vor ihm um den Schlaf. Wie sich vor ihm schützen? Ihn im Auge behalten! Kein Zeichen der Schwäche zeigen! Gedacht, geplant - getan: Sie ging in die überschaubare Bibliothek des Krankenhauses und lieh sich alles aus, was sie an “erwachsen, und stark” aussehender (Kinder-) Literatur finden konnte. Abends, wenn die gefährlichste Zeit für sie eintrat – Besucher blieben dann fern und auch die Krankenschwester kam nur noch selten ins Zimmer, bewaffnete sie sich mit dem dicksten Wälzer, richtete sich in dem kleinen Bett auf und schaute sich die vielzahl unterschiedlicher Buchstaben in den unzählig verschiedenen Konstellationen an. Was sie zu bedeuten hatten, wusste sie nicht. In diesem Moment spielte es eh keine Rolle. Sie betrachtete also diese unerklärbaren Buchstaben ohne Verwunderung. Nicht ohne immer wieder ganz unauffällig den Blick auf die Bedrohung zu werfen.
Zu Recht! Denn wie geahnt, verfolgte dieser Mann mehr, als den unschuldigen Schlaf seines Kindes zu bewachen. Er erwiderte den Blick. Offenbar war das Rüber schielen nicht unbemerkt geblieben. Langsam erhob er sich. Das Buch wurde von den kleinen Händen wie ein Rettungsring, der davon zu gleiten drohte, fest gekrallt. Die Buchstaben wurden zum unhörbaren Mantra: Ich bin groß, stark und unverletzbar! Jetzt ging der Mann tatsächlich auf die kleine Patientin zu. Ihre Finger bohrten sich in das Papier, ihr ganzer Körper vibrierte und Adrenalin strömte durch die engen Blutbahnen. Er stand jetzt vor ihr: “Es wird schwierig sein, das Buch zu lesen - so auf dem Kopf herum gehalten. Kannst du denn etwa schon lesen?”.
Das Kartenhaus oder besser: ihre Papier Festung fiel lautlos in sich zusammen. Genauso lautlos, wie sich der Mund der kleinen Patientin öffnete und der Kiefer herunterfiel. Natürlich! Es gibt ein Oben und Unten! Ein Falsch und Richtig herum! Daran hatte sie einfach nicht gedacht, ein unverzeihlicher Fehler. Oder? Nicht nur ihr Flunkern ist aufgeflogen. Auch ihre Phantasie, durch den Mann einer Gefahr ausgeliefert zu sein, war aufgehoben. Werten wir das als einen Erfolg. Damit ist hier die Frage nach der Moral, die im betrügerischen Verhalten lag, dahin.
Ein verkehrt herum gehaltenes Buch stellt die Realität auf den Kopf, wenn man es richtig macht.
3
Im Roman
Die Idee vom geschriebenen Leben ist nichts anderes, als die Verwirklichung der Idee, sich das Leben herbei zu schreiben, welches im Wesen angelegt ist. Das, welches man aus dem Innern heraus beansprucht. Oder anders gesagt - man agiert als der eigene Schöpfer. Das setzt gewiss einiges voraus.
Die Fähigkeit, sich selbst zu sehen. Indem man die “Linie des eigenen Schicksals erkennen kann”, wie es Alma Maria Mahler-Werfel formulierte. Die im Rückblick auf ihr Leben feststellt - gleich einem Roman!
Auch im amor fati - die Liebe zum Schicksal von Friedrich Nietzsche ist diese Idee bereits enthalten. Es mag widersprüchlich klingen, auf der einen Seite als Kreateur zu agieren und gleichzeitig lediglich das zu kreieren, was bereits angelegt ist. Vielleicht wie ein Schauspieler, der in der Bemühung authentisch zu sein oder zumindest zu wirken, gleichzeitig nach einem Drehbuch agiert.Dieser scheinbare Widerspruch lässt sich auflösen oder besser - gelassen aushalten, geht man davon aus, dass das gelebte Leben, das ist, welches tief in uns liegt, dem man nicht entkommt. Mit sanfter, wie roher Gewalt lässt es sich unterdrücken, was den sicheren Weg zur Psychose pflastern kann. Wie aber lässt sich der Weg zum Erkennen des eigenen Wesens finden? Auch hier greift Nietzsche: In der Einsamkeit des Wanderers. Die Planeten, die nichts anderes sind, drehen sich um sich selbst und umkreisen ohne Zutun oder eigenen Willen, Kraft oder Anstrengung die Sonne (sie ist ja die Ursache hierfür!). Die Behauptung, Planeten seien sich ihrer selbst so bewusst, als nichts anderes im Universum, trägt einen Animismus in sich, den man ablehnen mag, aber deshalb nicht weniger gehaltvoll ist. Zurück zum Menschen (wir werden später noch auf die Astronomie zurückkommen), stellt sich die Frage, ob es nicht doch den anderen bedarf, sich seiner selbst gewahr zu werden. So blitzt hier ein Widerspruch auf, den sich zu betrachten lohnt.
Ja, im Alleinsein ist es still genug, die eigene Stimme zu hören. Die eigene Stimme sucht aber immer eine Richtung, einen Adressaten, um sich selbst hören und sehen zu können. Es liegt also nahe, dass eine ausgewogene Mischung aus Einsamkeit und der Nähe zu anderen Menschen die gesuchte Fähigkeit ermöglichen kann. Im Roman hat alles seinen Grund oder es hat einen Grund, dass es keinen hat. Die Widersprüchlichkeit ist, wie die Innerlichkeit in der Romantik zu Hause, die ein lebendiges Leben charakterisiert. Damit ist der Zugriff auf den Roman als Anker zum Leben und Zuflucht vor dem Leben ein geeignetes Mittel, sich dieses zu ergreifen.
Ein erfundenes Leben muss auch erst einmal gefunden werden.
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Im Kaufhaus (P2)
Fest an der Seite unserer kleinen Patientin ist eine Mutter, die am Wohl ihres Kindes unzweifelbar bemüht ist. Sie verfügt zwar nicht über viel Geld, dafür aber für viel Zeit. Was sie ihr nicht bieten kann, ist der Vater. Er hat sie verlassen, als ihr Kind drei Jahre alt war. Die Folge davon ist tief im Innenleben der kleinen Patientin zu erforschen. Nicht nur, denn das Innen dringt nach Außen, wie das Wasser bergab fließt und die Flammen dem Himmel entgegen schlagen.Heute sieht das so aus: Oft, wenn die Mutter mit ihrer kleinen Tochter unterwegs ist, wie beim Einkaufsbummel und sie diese für einen Augenblick aus den Augen lässt, weiß sie, wie sie die Kleine wiederfinden kann. Sie schaut sich nach einem großen Mann um. Die kleine Patientin findet solche, ohne sie überhaupt suchen zu müssen. Einen entdeckt, macht sie nichts anderes, als das für sie selbstverständlichste: Sie ergreift seine Hand und geht mit ihm mit. (Oder er mit ihr?). Dieses Mal kommt es, dass er sie in eine Eisdiele führt. Folglich sucht sie die Mutter im Kaufhaus vergeblich. Die oft gehörte Durchsage “Der kleine Anton möchte doch bitte von seinen Eltern an der Kasse in der ersten Etage abgeholt werden” wird entsprechend abgeändert, aber da sie längst das Kaufhaus verlassen hatte, war das vergebens. In größter Sorge stürmt die Mutter nach draußen auf die Einkaufsmeile. Kaum ist sie im grellen Tageslicht, entdeckt sie ihre Tochter gleich gegenüber, vergnügt ein Eis schlecken - an ihrer Seite ein wildfremder Mann. Die Reaktion der Mutter, eine Mischung aus Erleichterung und Entsetzen war eindringlich. Das war das letzte Mal, dass die kleine Patientin an der Hand eines fremden Mannes weggegangen ist (zumindest für die nächsten Jahre).
Wer den Vater will, wird Eis schlecken.
5
In der Astronomie
Zunächst betrachten wir eine Weisheit aus dem Talmud: “Wir sehen die Dinge so, wie wir sind.” Das klingt so verzaubert wie fern. Daher kommen wir schnell zur näher liegenden Frage: Ist das Glas halb voll oder halb leer? Je nach momentaner Verfassung, Grundhaltung, Wesen wird man eine entsprechende Antwort geben. Das lässt sich auch an ästhetischen Dingen exerzieren: Ist diese Blume schön, gewöhnlich oder ist sie - beziehungsweise - bewerten wir sie als hässlich? Wie auch immer die Antwort sein mag, sie wird uns mehr über die Person, von der wir eine Antwort bekommen, als über die Blume selbst sagen.
Wagen wir uns auf ein komplexeres und ausgedehntes Feld, das Allumfassende, die Astronomie, so bekommen wir ein gesamtes Bild einer Zeit, Gesellschaft, einer Person. Nachdem schon "früh" von den alten Griechen allen voran Aristarchos von Samos ein heliozentrisches Weltbild nachvollziehbar und glaubhaft errichtet wurde, wurde es eine lange Zeit (fast zweitausend Jahre!) geleugnet. Ptolemaios hatte die Erde wieder im kosmischen Mittelpunkt platziert und trotz aller damit einhergehender Gehirnakrobatik, wollte das genauso über viele Jahrhunderte hinweg gesehen werden. Nicht von allen, das sollte klar sein, aber immerhin von nicht wenigen. Es wäre hier nicht uninteressant der Frage nachzugehen, weshalb. Bleiben wir aber bei Tatsachen, so stellen wir fest: Wir sehen die Dinge so, wie wir sind.
Auf das Thema sich das Leben ergreifen bezogen, enthält es die Folgerung, dass darin ein Vorteil für das Individuum liegen muss. In Verbindung mit dem Thema Kosmos, was nichts anderes darstellt, als Ordnung können wir festhalten, dass zur Ergreifung des Lebens eine (wie und warum auch immer) so konstruierte Ordnung dazu gehört. Nach diesen Ausführungen liegt nahe, dass dies zum Menschsein gehört. bleibt nur die Frage, wie sehr man sich dessen bewusst ist oder besser: bewusst sein will.
Deine Ordnung ist dein Universum.
6
Im Salon
Auf die Gefahr hin, aus der Zeit zu fallen: warum nicht (private) Räume öffnen und anderen die Möglichkeit bieten, sich auszutauschen und auszudrücken, wie es nie zuvor geschehen ist. Im Ersten Mal (das kennt man auch von anderen Ereignissen) liegt eine wundersame Sache. Das Öffnen. Eine Flasche Champagner wird nur einmal geöffnet. Ein einzigartiges Ereignis und allein deshalb schon fast etwas Sakrales. Im Salon wird freilich nicht ausschließlich die Premiere präsentiert, aber sie bietet die Chance auf eine exklusive Darbietung von Kunst. Salons sind heute rar, darum lasst uns über offene Bühnen sprechen. Hier geschieht genau das: Oft ohne gefestigte Grundlage, können hier diejenigen, die bereit sind, sich den Platz zu nehmen, einem Publikum “stellen”.
Dieses Publikum kann darauf hoffen, dass die mangelnde Qualität hier, durch eine bezaubernde Frische dort kompensiert wird.
Ein gefährliches Unterfangen (für beide Seiten), welches nicht selten Langeweile und schlechte Unterhaltung hervorbringt. Eine Gefahr, die zu Fürchten wohl eher lächerlich erscheint. Für alle Seiten gilt hier: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt! Was einen vom Wagnis eine Bühne zu betreten abhält? Das kann etliche Ursachen haben, klar. Zentral tritt hier der Punkt des Versagens, des Scheiterns und der Ablehnung ins Licht. Aus Gründen der zeitgenössischen Unfähigkeit mit den genannten Punkten umzugehen, wird das Spiel häufig nicht ergriffen. Denken wir zurück an die Badeanstalt, wird deutlich, wie verworren diese Tatsache ist. Scheitert der Sprung vom Zehn-Meter-Brett, ist möglicherweise alles verloren. Scheitert die Show, hat man was genau verloren?
Distanzieren wir uns von der Welt der Kunst (oder auch misslungenen Versuchen von Kunst), nähern uns der Alltagswelt, beispielsweise der Arbeitswelt und behalten dabei aber den entstandenen Gedanken “sich-die-Bühne-nehmen” im Kopf, liesse sich daraus folgendes übertragen:
Die Möglichkeit, aus dem selbst angelegten Korsett auszubrechen, niemandem als sich selbst Folge zu leisten und nur das zu tun, was einem selbst zu tun als das Richtige erscheint? Ja, wo kommen wir denn da hin? Dann macht am Ende jeder was er will! Ja, für die einen klingt das nach Albtraum, für viele andere ist das nichts anderes als der größte Traum vom Menschsein. Wie kann beides koexistieren?
Selbst die schwächste Motte fliegt ins Licht.
7 In der Schule (P3)
Wenige Jahre sind inzwischen vergangen. Unsere kleine Patientin ist (zwar immer noch klein) aber inzwischen alt genug, das Alphabet zu beherrschen. Auch wenn sich die indigoblauen Finger noch stark verkrampfen, entstehen schon mehr oder weniger flüssige Texte. Bildreiche Gedichte entspinnen sich aus ihrer Gefühls -und Gedankenwelt:
Eine Kerze im Wind,
Lebt nicht lange,
Sie stirbt dann.
Als Herrscherin über die Buchstaben schreibt sie viel, obwohl ihr Malen mehr Freude bereitet. Dabei entstehen nicht selten plump nacherzählte Alltagssituationen, die sie einfängt, als seien es Ereignisse. Nicht falsch verstehen, sie erhebt nicht Alltägliches zu Glanz reichen Ereignissen. Nein, sie schreibt, ohne dabei zu überraschen, zu fesseln oder gar zu unterhalten, über banale Erlebnisse aus ihrem Leben. In der Klasse war es laut, die Klassenkameradin hat jenes gesagt, dieser das getan - und so seitenweise.
Wenn auch langsam, so hat sich dank des Einflusses deus ex machinas peu a peu etwas daran getan. Die Geschichten bekamen Atmosphäre und Phantasie.
Und genau die war gefragt, als es ihr unterlaufen war, ohne die erledigte Hausaufgabe im Unterricht zu erscheinen und aufgefordert wurde, den fertig zu stellenden Aufsatz vorzulesen. Man kann es ahnen. Nicht nur Phantasie, sondern auch schnelles Improvisationsvermögen waren gefordert… nachdem sie die letzten Zeilen vorgelesen hat, legt sie los. Der Ärger über sich selbst, sich durch ihr Versäumnis in Schwierigkeiten gebracht zu haben, verwandelt sich im Nu in Lust an der Herausforderung, möglichst flüssig und interessant den Erzählstrang fortzusetzen. Einige Minuten genießt sie ihr Talent. Bis es erschöpft ist und sie mehr und mehr stottert. Die neu entdeckte Strategie, das Geschriebene als unleserlich auszugeben, ist ein letztes Aufbäumen, bis schließlich der tiefe Fall folgt. "Kann es sein, dass du in deinem Heft gar nichts stehen hast?". Eine Lüge, ein Täuschungsmanöver oder die hohe (wenn auch unausgereifte) Kunst der Improvisation? Welche Rolle spielt das? Unserer kleinen Patientin können wir nur gratulieren, durch nichts und niemanden anderen, allein durch sich selbst, hat sie die Entdeckung dieser Gabe gemacht. Ein Moment, der das Leben als lebendiges Leben mit nichts anderem als Kunst vereint, erschaffen ohne Skript oder Leader. Nur ein Lehrer und ein paar Mitschüler als Statisten (und Publikum in einem).
Du bist dein eigener Lehrer, Richter, Henker, Erlöser, Befreier und Gott.
8
In der Arbeitswelt
"Das kann ich nicht machen" ist eines der schlimmsten Sätze, die jemand sagen kann. (Nicht nur ungeeignet auf dem 10 Meter-Sprungbrett). Er verwirft jede Achtung vor dem menschlichen Dasein. Ein Schaf kann nicht anders als zu fressen und sich die Wolle wachsen zu lassen. Aber ein Mensch ist doch gerade deshalb ein Mensch, weil er Entscheidungen treffen kann. Das hier wird sicher nicht auf die Aufforderung hinauslaufen, sämtliche Regeln des Miteinanders oder über die Dinge zu brechen. Das wäre zu einfach. Ganz genauso verhält es sich allerdings auch mit dieser Aussage. Und zweifelsohne ist sie mehr Mittel der Macht (für einen Augenblick gegenüber einer anderen Person), als eine der Vernunft entsprungenen Tatsache. Tiefer ist man gefallen, sollte es durch ein "leider" ergänzt sein. "Das kann ich leider nicht machen". Hier wird als Höflichkeit maskiertes Selbstmitleid verkauft. Selbstverständlich geht es schlimmer: "Da können wir leider nichts tun". Zum einen wird mit wir eine der ältesten, größten und zugleich kürzesten Phrasen bemüht, die mehr nach Persönlichkeitsstörung, als nach sachlich grundlegendem Argument klingt. Zum anderen spricht das nichts tun, auf seine Weise von nichts geringerem, als dem Tod. Sicher, den wollen und können wir nicht verbannen, aber ihn als Begründung für die eigene Unfähigkeit zu Denken und zu Handeln heran zu ziehen, ist schon ein starkes Ding und ganz nebenbei das Gegenteil von ergriffenem Leben.
Betrachten wir dagegen "ich schau mal was ich da machen kann" ist sofort spürbar - hier lebt etwas. Nichts geringeres als ein menschliches Wesen, das in der Mühe und ihren Früchten den Genuß, eine hohe Errungenschaft gefunden hat.
Auch lohnt der Blick auf die schier unfassbaren Leistungen und Hervorbringungen der Menschheit. Von Stonehenge, Buchdruck bis zum Smartphone - dahinter stehen Menschen, die es gewagt haben, einen Schritt zu gehen, den ihnen niemand vorgegeben hat, etwas geschaffen, was vorher nicht einmal denkbar war, in egoistischer Weise ihre Vision realisiert haben. Mit dem Rad kamen die Dinge ins Rollen, davor wurden sie geschleppt von Mensch und Tier.
Wäre Ronald Reagan Präsident der USA geworden, hätte er gesagt: "Nein, ich kann das nicht machen - ich bin Schauspieler und nicht der Präsident der USA."?(??)
Gleichzeitig gab es eine Zeit und gibt es auch heute noch, wo ein beherztes "Das kann ich nicht machen." angebracht ist. Das wollen wir nicht vergessen. Es ist aber (wunderlicher Weise mit der exakt gleichen Buchstaben Kombination ausgedrückt) ein ganz und gar anderes. Ein lebensbejahendes. Ein Nein zu unzumutbaren Verhältnissen zum Beispiel. Während die erstgenannte Variante voll in Mode gekommen zu sein scheint, wo verweilt letztere?
Wer gar nichts kann, der kann nicht viel, wer alles kann, ist besser dran, weil er ein Nashorn heben kann. * Janosch
9
In der Kunst
Lasst uns hier die Kunst als "die Bastion der freien Betätigung" sehen, wie sie im Wunsch des einen oder anderen Künstlers begriffen wird (und von wenigen so auch gelebt). Ein Stoff auf den Farbe aufgetragen wird, kann diese Bastion verkörpern. Wenn wir nicht an die Zeit denken, inder nach Vorgabe des Kaisers agiert wurde, sondern an heute. Hier besteht freilich die eben erwähnte Form weiter, aber diese lassen wir für den Moment außer Acht. Eine Leinwand in Blau einzuölen, sich anschließend damit auf den Markt zu begeben und dafür ein Jahreseinkommen eines durchschnittlich verdienenden Mittelständlers zu verlangen, bedarf ohne Zweifel der Fähigkeit des Ergreifens. Kreativität ist der Spaß, den man als Arbeit verkaufen kann, sagt Andy Warhol. Das können nur sehr wenige. Die meisten können eben "da kann ich nichts machen" sagen, wie wir es eben in der Arbeitswelt gehört haben.
Alles hat seinen Preis, heißt es so schön. Wer bestimmt ihn? Sicher, das Thema ist komplexer und hier nicht der Raum, dem gerecht zu werden. Also nehmen wir allein die Figur und lassen sie ohne Szenografie, Kontext oder Zeit auf uns wirken.
Wir merken bald, wie wertvoll der Gedanke ist, das was man tut, womit man sich beschäftigt, was man schafft, schon deshalb nahezu unbezahlbar ist, weil es von niemandem sonst getan oder gedacht wird. Nicht so und auch nicht in diesem einen Moment. Schnell ist klar, dass sich das auf sämtliche menschliche Regungen beziehen lässt. Der Mann, der die Straße fegt und die Frau, die die Wäsche macht, kann das so sehen, wie unser Künstler. Auch wenn die eigene Haltung nichts am Kontostand ändert, ändert sie etwas im Innern. Vielleicht hat auch das seinen Wert und ändert etwas ganz anderes.
De Kooning radiert aus und du klaust?
10
Immer noch in der Schule I (P4)
Wir hören wieder von unserer kleinen Patientin. Nein, klein ist sie nicht mehr. Ihr langer Körper bereitet ihr häufig Schmerzen. Im Wasser fühlt sie sich am wohlsten. Dann ist es ihr, als sei alles an und in ihrem Körper an richtigem Ort und Stelle. Wenn sie kann, geht sie schwimmen und verzichtet selten auf einen Morgen mit Yoga. Das darf man sich nicht als ein sanftes Ritual zum Tagesgruß vorstellen. Es ist eher eine Form der Folter. So ersetzt sie mit einem von ihr initiierten Schmerz, den bestehenden. Sie reißt und zerrt nach Lust und Laune an ihren Gliedmaßen. Dehnt bis weit über den letzten Schmerzpunkt hinaus, wenn ihr danach ist. So beginnt sie auch den heutigen Tag. Wenig später darf sie im Kunstunterricht (nach unzähligen Stunden Gebastel mit verklebten Fingern, Rumgepansche in Ton und allerlei Ausübungen kreativer Prozesse), sich der Aufgabe hingeben zwei Gegensätze bildnerisch darzustellen. Im Zeitalter der Pubertät könnte man erwarten: Liebe und Hass. Aber das ist was die anderen versuchen darzustellen. Um sie herum werden eifrig Herzen und Waffen in allen Formen und Farben zu Papier gebracht. Auch ein Anatomisches, welches mit einem Säbel verletzt wird ist darunter. Davon wendest sie sich angewidert ab. Selbstverständlich muss es etwas größeres sein. Etwas tieferes. Leben und Tod? Noch bevor ihr das in den Sinn kommen könnte, tauchen links und rechts von ihr die ersten von Rosen umrankten Schädel auf. Das kann ja nur kitschig werden. Was ist es also, was es sich lohnt auf dem Papier mit Strichen, Formen und Farben darzustellen? Welcher Gegensatz treibt sie an, den Pinsel in die Hand zu nehmen? Lange überlegt sie. Was ihr, unterbrochen von den ständigen Ermahnungen des Kunstlehrers endlich anzufangen, nicht leicht fällt. Angefangen hat sie längst. Gewiss nicht im Äußeren, sie sitzt nahezu regungslos vor einem weißen Blatt Papier. Jetzt weiß sie es: Etwas und Nichts. Das ist es! Der Gedanke ist schon etwas, während nichts auf dem Papier ist. Sie ist mit der Aufgabe fertig, verlässt den Raum und findet einen neuen Gegensatz. Der Kunstlehrer, dem das ganz unrecht ist und mit ihr in die Diskussion geht - neben ihrer Unfähigkeit, ihn von ihrer Arbeit zu überzeugen, sie hat weder Begriffe der Konzeptkunst, noch eristisches Talent in sich.
Erfüllt von ihrem gelungenen Werk, kann sie aber nicht anders, als standhaft zu bleiben. Der Lehrer akzeptiert schließlich und sie darf gehen.
Auch wenn er es sicher mehr aus einer Müdigkeit über die Diskussion getan hat, als aus Überzeugung, bleibt für unsere kleine Patientin (wir nennen sie einfachheitshalber weiter die “kleine”) dieser Morgen, wie wir noch hören werden, ein entscheidender.
Wer denkt, handelt. (Nicht nur der Neurotiker).
11
In der Gesellschaft
Sehen wir eine Gruppe, die etwas teilt, einen Tisch, eine Vorliebe oder die Nationalität als Einheit, sprechen wir gern von Gesellschaft. Oft geht es weniger gesellig zu, auch wird nicht unbedingt etwas geschaffen, aber wen interessiert das hier schon. Wortklauberei ist etwas für Kleinkarierte (nicht im modischen Sinn!). Und von diesen wimmelt es geradezu in jeder Gesellschaft. Das bringt, so könnte man vermuten, das Wesen einer jeden Gesellschaft mit sich. Wer aus der Reihe tanzt, den falschen Ton anschlägt, wird das zu spüren bekommen - von eben jener Gesellschaft.
Jedem dem es gelingt, sich hier nicht zu verbiegen, stattdessen mutig zu denken, kann ein Lied davon singen.
Damit ist auch darin ein Antrieb und kann als Mittel zu einem Leben, das nicht in Schablonen vorgefertigt, im Katalog abgebildet oder im Awareness-Workshop eingeimpft (darf man das so noch formulieren?) ist, ergriffen werden.
Wo im Kreis getanzt wird, wird einem leicht schwindelig.
12
In der Straftat
Delinquenz als Zeichen des Willens zum (gelungenen) Leben:
Das werden wir durch Donald Winnicott einem Kinderpsychoanalytiker so bestätigt finden. Er spricht vom Kind, welches stiehlt als das, auf welches man hoffen kann.
“Das Kind entwickelt neue Hoffnung und begeht antisoziale Taten, weil es hofft, die Gesellschaft zwingen zu können, mit ihm zu dem Punkt zurückzugehen, an dem die Störung eintrat, und diese Tatsache anzuerkennen.Wenn dies geschehen ist…, dann kann das Kind wieder Verbindung zu der Zeit vor dem Augenblick der Deprivation aufnehmen und das gute Objekt und die gute schützende Umwelt wiederentdecken, die ihm früher ermöglicht hatten, seine Triebe, auch seine destruktiven, zu erleben.” (Winnicott, Aggression, Seite 146)
“... Wenn die Situation standhält, so muß die Umwelt immer wieder daraufhin getestet werden, ob sie die Fähigkeit hat, die Aggression auszuhalten, die Zerstörung zu verhindern oder zu reparieren, die Störung zu ertragen, die positiven Elemente in der antisozialen Tendenz zu erkennen und ein Objekt zur Verfügung zu stellen und zu schützen, das gesucht und gefunden werden kann.” (Winnicott, Aggression, Seite 169)
Unter uns gesprochen: Mit der Straftat holt man sich zurück, was einem genommen wurde, stellt eine zerstörte Ordnung wieder her. Interessant ist hierbei der Aspekt der Ordnung. Was sich darunter verstehen lässt, kann so unterschiedlich - wie die einzelnen Individuen der Menschheit - ausfallen. Wir können davon ausgehen, dass sie in der frühen Phase des Lebens eingerichtet wird. In der Beziehung des Kindes zur Mutter, zum Vater, zur Gesellschaft und zu den Dingen. Ein Blick zurück in die Kindheit kann daher die Frage nach der Ordnung erhellen. So ist die Psychoanalyse der Ort dafür. Wer seine Ordnung erkennen möchte, kann sich Antworten auf Fragen der Wahrnehmung, ihrer Bewertung oder anders gesagt, der Gefühlswelt in der Arbeit mit dem Unbewussten geben. In diesem Raum, der frei von moralischen Kategorien und Urteilen ist, kann das geschehen. Sie gibt die Möglichkeit ein lebendiges Leben zu kreieren.
Raum für echtes Leben in künstlichen Orten.
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Im Straßenverkehr (P4)
Auf dem Tisch unserer kleinen Patientin befindet sich jede Menge Papier. Darauf sind keine Buchstaben oder Worte zu finden - das Schreiben hat sie inzwischen weitgehend vernachlässigt (zum Glück). Ihr Metier ist die Darstellung im Bild. Sie geht auf dem Papier mit Bleistift und Pinsel spazieren, wandert von Strich zu Strich mit ihrer Seele nach außen in unsere Welt - sie malt, wann immer ihr es die Zeit erlaubt. Heute wird sie den Weg zum sehnlichst erwarteten Aktzeichnen-Kurs mit dem Fahrrad zurücklegen. Sie hasst es. Das Fahrrad und Fahrradfahren an sich. Aber sie hat keine andere Wahl, wenn sie nichts von der kostbaren Zeit dort, beschäftigt mit der Nacktheit eines - für ihren Bleistift so reizenden Körpers – verpassen möchte. Ihrem Ärger sich zu spät losgemacht zu haben, verdankt sie, dass sie nichts Geringeres als Bleistift und Papier im Rucksack auf dem Tisch liegen gelassen hat.
Das weiß sie, als sie die Treppe hinunter hetzt und sich ihr Fahrrad schnappt noch nicht. Erst einmal gibt sie Vollgas. Sie überholt alles, was sich in immer geringerer Entfernung nähert, egal ob Sonntagsfahrer oder leidenschaftlicher Rennradfahrer. Ihre Beine machen das Fahrrad zu einem Fluggerät. Anders kann sie den Schaden zu spät zu kommen nicht begrenzen. Die Jagd durch die Stadt ist keineswegs ungefährlich für unsere kleine Patientin. Sie trägt keinen Helm und düst, als gäbe es kein Morgen, sollte sie es anders tun. Selbstverständlich gibt es für sie keine roten Ampeln. Was einen Menschen so rasend machen kann, sieht man ihm von außen nicht an. Sie überfährt wieder eine rote Ampel, lässt die anständig wartenden Radfahrer hinter sich. Gleich hat sie es geschafft, nach der nächsten Kreuzung sind es zwar noch einige Kilometer geradeaus, aber wenigstens ohne Ampeln. Sie gibt noch einmal richtig Vollgas, trotz der bald auf rot schaltenden Ampel. Gleich hinter ihr ein jetzt ebenfalls schneller Radfahrer und ein LKW, der nichts anderes vorhat, als bei der nächsten Ampel rechts abzubiegen. Keine Sorge - diese Gefahr wird von unserer kleinen Patientin bemerkt. Sie rast auf die jetzt auf rot geschalteten Ampel zu und bremst. Zwei dunkelgraue Streifen sind auf die Straße geschriebene Zeichen für: ich will weiter. Der LKW biegt ab und donnert davon.
Da passiert es - der Radfahrer, den sie an der letzten Ampel zurückgelassen hatte, ihr dann aber bald auf den Fersen war, bremst ebenfalls an dieser Ampel. Er macht das
allerdings in der Art, dass er nur leicht abbremst, in einem Bogen ausholt und ihr Wut erfüllt ins vordere Laufrad reinfährt.
Von dieser seltsamen Kollision ist sie irritiert. Mehr noch, als der Radfahrer anstelle einer Entschuldigung blafft: "Na! Was hat dir es jetzt gebracht über Rot zu fahren? Was? Das hast du jetzt davon”. Er spuckt ihr vor die Füße. setzt seine Fahrt fort, biegt ebenfalls rechts ab und verschwindet. Ihre Antwort “Das weiß ich nicht.” bleibt ungehört.Diese Lektion, erteilt von einem, der es nicht erträgt zu sehen, wie sich jemand anderes etwas rausnimmt, was er sich selbst nicht erlauben würde, eröffnet ihr etwas anderes. Sie bemerkt, dass ihr Rucksack fehlt. Gepackt hatte sie ihn, aber nicht mitgenommen. Das ist zu viel für sie. Sie akzeptiert - heute wird es für sie keinen Aktzeichnen-Kurs geben. Um dieses Vergnügen hat sie sich selbst gebracht.
Ein Schmerz, wie ein wildes verletztes Tier taucht in ihrem Bauch auf. Da merkt sie erst, wie sehr sie aus der Puste ist, setzt sich auf den Boden und lacht. Immer noch außer Atem, verschluckt sie sich halb, hustet und wird immer beruhigter. Wie nach einem sanften Mittagsschlaf setzt sie sich auf ihr Fahrrad und tritt den Rückweg an. Dabei gleitet sie über die Straßen, als würde sie auf Schienen gezogen. Nicht besonders schnell. Zügig, nicht schnell. Der übrige Straßenverkehr ist nichts anderes als ein Sammelsurium von Beiläufigkeiten, denen man keine besondere Beachtung schenken muss. Sie nimmt, was um sie herum ist wahr, ohne es zu spüren, oder zu denken. Augen, die sehen ohne Körper der fühlt, Gedanken der fasst.
In sanften Bewegungen weicht sie aus, biegt ab, überholt (nur noch die ganz speziellen Sonntagsfahrer) und hält die Richtung stabil. Nicht weniger natürlich, wie ein Fluss, der das Ufer entlang schmeichelnd seinen Lauf nimmt. Da bemerkt sie vor ihr ein Auto, das dabei ist, aus einer Ausfahrt rückwärts auszupacken. In diesem Winkel wird sie den Blick des Fahrers dieses schicken Wagens nicht sehen können. Sie bremst ab. Das Auto bewegt sich weiter in Richtung ihrer Fahrbahn. Ein kräftiger Schrei, warnt vor einem Zusammenstoß. Das ist in diesem Moment das einzige was sie noch tun kann. Zu spät, der Fahrer ignoriert ihr kommen und so fährt sie direkt in das Auto hinein. Ein sanfter Aufprall erschüttert sie, fast wohltuend.
Das ist auch schon alles. Kein Kratzer, wurde dem schmucken Auto verpasst und sie ist, so wohl auf wie zuvor. Es gibt keinen Grund länger zu verweilen. Sie will weiter und entdeckt, dass das vordere Laufrad einem Widerstand ausgesetzt ist - es schleift am Schutzblech. Der Fahrer ist inzwischen ausgestiegen, zeigt sich verantwortlich und bittet vielmals um Verzeihung. Er erkundigt sich nach ihrem befinden. Da das für sie (aus einem anderen Grund) gerade nicht vorhanden zu sein scheint, beruhigt sie ihn - es geht ihr gut. Wie aus einer Trance öffnet sie den Mund. “Aber das Fahrrad! Das hat einen heftigen Schaden erlitten. "Einen Achter, der nicht ohne Kosten durch eine Reparatur in der Werkstatt behoben werden kann”. Der Fahrer sieht das ein - das Rad schleift. Sie fordert nicht weniger als einhundert Euro und die Sache sei unverzüglich geklärt. Der Fahrer überlegt und handelt. Er gibt ihr, was sie dafür verlangt, steigt in sein Fahrzeug und fährt weg. Sie greift einmal beherzt ans Schutzblech, biegt, zerrt und radelt ohne Widerstand davon.
Kurze Zeit später erreicht unsere kleine Patientin ihren Tisch, auf dem sie viele neue Bleistifte, Farben und Pinsel ausbreitet.
Was man vorher nicht weiß, ist der Grund für das Ganze (nicht Alles).
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In der Musik
Von der Musik wissen wir, dass ähnlich der Schrift bestimmte Buchstabenkombinationen und Satzzeichen, die zum sinnvollen Wort und zum nachvollziehbaren Inhalt gehören, die Tonfolge und der Rhythmus für den Ausdruck entscheidend sind. Eine Änderung darin wird das akustische Erlebnis womöglich auf den Kopf stellen und damit die Wahrnehmung, der sich die Bewertung anschließt. Das trifft bei noch so vielen Variationen, was musikalisch über Jahrtausende hervorgebracht worden ist, überall zu. Beliebigkeit findet sich nirgends, nicht in der Improvisation, nicht in den Rhythmen abgelegener Buschvölker. Es gibt bei aller Freiheit ein Regelwerk. Verlässt man dieses, wird das von kundigen und interessanter Weise, sehr oft auch von Laien bemerkt. Was heißt es also, sich hier etwas zu nehmen? Blickt man an den Rand, an die Schwelle zum Unkonventionellen, erscheint zum einen die Vielzahl an Disharmonie, Experimental und anderen wenig verbreiteten Genres. Das ist verbunden mit dem Bild der Hörer Gemeinde - nerdige Typen, eine Szene, die sich auch gern als solche äußerlich markiert. Dessen bewusst, wird das als Distinktion genossen. Das mag man als Außenstehender belächeln, was nichts weniger ist, als eine Reaktion auf den Neid, nicht dazuzugehören und ausgeschlossen worden zu sein. Vielleicht rührt das von der Kurzsichtigkeit her, dass es hier einer Gesellschaft gelungen ist, sich lustvoll zusammenzuschließen und sich daher jeder Neid verbietet, möchte man sich nicht selbst zu Lust feindlichen Tendenzen gesellen.
Zurück zur Musik. Gewiss, ein gewisses Maß an Chuzpe gehört dazu, Musik zu machen, die neben einem selbst nur wenigen anderen gefällt und wertgeschätzt wird. Das wollen wir selbstverständlich würdigen. Eine Grenze ist deshalb noch nicht überschritten worden. Mit Hurz von Hape Kerkeling kommen wir dieser Sache schon näher. Er bietet etwas an, wovon auszugehen ist, dass eine große Bereitschaft, etwas völlig Ungewohntes anzuerkennen, erfragt. Das ganze steht im Rahmen einer Show, eines Gags und ist damit in eine geschützte Sphäre gebettet. Er riskiert dabei kaum etwas, im Gegenteil, er arbeitet mit großem Erfolg mit der psychischen Struktur des Publikums.
Anders sieht es aus, hören wir bei einer musikalischen Darbietung gar nichts. John Cage verlangt mit seinem Werk 433 schon mehr von seinem Publikum: Unhörbares als Musik zu identifizieren und zu würdigen.
Wir wissen, das ist ihm gelungen - kann man sagen, dass er sich dabei etwas rausgenommen hat?
Wenn Ohren nehmen.
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Immer noch in der Schule II (P6)
Wir sehen unsere kleine Patientin immer häufiger im Licht mit Pinsel und Farbe beschäftigt vor einer Leinwand arbeiten. Dabei entstehen Bilder, die sich schwer in Worte fassen lassen. Ein Versuch:
In tiefer Räumlichkeit wird zweidimensional abstraktes mit verwandelten Gegenständen arrangiert. Aus der Ferne könnte man darin ein Tier, zumindest ein Wesen, erahnen. Im Detail erscheinen manche Pinselstriche, wie Fragmente nicht mehr identifizierbarer Objekte. Das Licht durchzieht einen so sonderbaren Verlauf, dass man annehmen müsste, es wäre eine von Menschenhand bewegte Taschenlampe darauf gerichtet. Beim langen Betrachten möchte man meinen, es gehört andersherum und dreht es in Gedanken um. Bei all dem strahlt es eine Ruhe und Ordnung aus, ohne langweilig zu sein. Ist es eine Einladung zur Meditation?
Dann gibt es Bilder, die wie Schnappschüsse wirken. Gegenständliches wird derart porträtiert, dass man meinen möchte, es handelt sich dabei um die Präsentation eines nie zuvor dagewesenen Diamanten, dessen Schliff eigens für ihn entwickelt worden ist. Aus der Ferne wirkt es banal, aber es strahlt aus, es von der Nähe her betrachten zu müssen.
Unsere kleine Patientin befindet sich umgeben von allerhand Skizzen, Kritzeleien, ausgequetschten Tuben, Gläsern, und Papier. Irgendwo spricht das alles zu ihr. Sie kann dem das entnehmen, was sie daraus entfalten wird. Sie lebt in einer Symbiose mit all dem. Still ist es hier. Zu still. Keine Sprache aus Worten dringt in diesen Raum. Keine Gefühlsregung bricht in diese Atmosphäre ein. Wind ist das einzige, was hier sanft das, was leicht beweglich ist, aufwühlt.
Sie beschließt, sich der Flöten AG anzuschließen. Ein Ort der Begegnung und des gemeinsamen Schaffens. Denn auch in der Yoga Gruppe ist sie unter vielen mehr bei sich. Die meisten Flöter sind schon in ihrem dritten oder vierten Jahr dabei, aber die Musiklehrerin ist so überrascht und vor allem erfreut von dem Wunsch ihrer Schülerin, dass sie ihr zuspricht und zuversichtlich jeden Zweifel über etwaiges Unvermögen nimmt.
Mit der Blockflöte hat sie vertrautes Material in ihren Händen. Das Holz fasst sich angenehm an, die agilen langen Finger schließen die Löcher, ihr Atem durchströmt das Innere ihres Instruments. Nach anfänglichen Schwierigkeiten, das gleichmäßig, ohne dabei zu stocken oder zu ersticken zu tun, entstehen immer häufiger die gewünschten Töne. Mit dabei sind aber auch welche von der Art, die zu hören unangenehm sind. Als würde es einem im Vortrag eines Gedichts unterlaufen, willkürlich Worte einer anderen Sprache dazu zu nehmen.
Es strengt sie an. Als müsste sie denken und Sprechen gleichzeitig. Was ihr beim Malen gelingt - sehen und dabei gleichzeitig den Pinsel bewegen, ist hier die Ausnahme. Zudem wird das noch durch Noten, die gleichzeitig zu dechiffrieren sind erschwert. Mit Zwang und Freude am großen Klangbild der Flöten kommt sie mit Mühe voran. Bald steht das Orchester Konzert an. Die Flöten werden zu einem Teil eines großen musikalischen Ereignisses. In der Kirche wird die gesamte Schule und zahlreiche, die in irgendeiner Weise mit ihr in Verbindung stehen, anwesend sein. Unsere kleine Patientin wird nicht in der großen Masse der Zuhörer zu finden sein, sondern in der kleineren des Orchesters, unter dem kleinen Teil der Bläser, eine mit einer Flöte in der Hand.
Die Anspannung steigt bei allen. Die Ohren der Lehrerin werden immer wacher, für falsche Töne. Die kommen Mal aus der Richtung und Mal aus der anderen. Nicht selten aus der Flöte unserer kleinen Patientin. Das fällt bald auf. Sollte sie das nicht in Griff bekommen, wird es unmöglich sein, sie am Konzert teilnehmen zu lassen - da könne sie nichts machen, erklärt es die Lehrerin. Nichts machen? Das ist es. In der nächsten Probe, als die Reihe unserer Patientin musikalisch geprüft wird, ist kein falscher Ton mehr zu hören. Etwas leiser als sonst, aber alles, wie es in den Noten steht. Die Lehrerin ist stolz und sieht sich bestätigt - sie hat sich in der Lernfähigkeit ihrer Schülerin nicht getäuscht. Sie hatte sich lediglich täuschen lassen, aus ihrer Flöte auch nur den leisesten Ton hat hören zu können. Ja, unsere kleine Patientin ist lernfähig.
Ein Konzert kann so gut sein, schweigt die letzte Flöte.
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In der Küche
"Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt" hört man heute vielleicht seltener, als zu Zeiten, in denen das Angebot eingeschränkt oder die Kapazität, der Raum, die Zeit für das Zubereiten einer Mahlzeit schlicht und einfach zu kurz war. Das Problem gibt es heute noch in jeder Groß -und Kleinstadt, wie auf dem Dorf. Wo wir uns um Mängel weniger kümmern müssen, betreten wir, wenn wir in die Küche gehen eine Oase der gastrischen Genüsse. Vorausgesetzt, sie ist ausgestattet mit kulinarischen Gütern von nicht schlechter Qualität und einem Koch oder einer Köchin, die eine Ahnung hat, was sie tut oder tut, was sie tun soll: Etwas zubereiten, das den oralen, geschmacklichen, ästhetischen Sinn des Gastes (selbstverständlich ebenso ihren eigenen) bedient. Oder diesen übertrifft und damit eine neue Erfahrung einleitet. Satt darf die Mahlzeit auch machen, aber das sollte nicht die erste Priorität sein (wen das jetzt wundern sollte, dem wird in einem später angesprochenen Kapitel vielleicht noch Wunderlicheres begegnen).
Der Gaumen, der wie die Zunge eine Wundermaschine der Wahrnehmung ist, wird zu unrecht wenig beachtet. Mit beiden zusammen lässt sich im Mund, der auch als erogene Zone bekannt ist, wunderbar eine Eigenmassage durchführen. Diese soll auch die Fähigkeit des Geschmackssinns steigern. Wer sich also die differenzierten olfaktorischen Feinheiten zukommen lassen will, hätte hier eine Anregung, die er sich nicht nehmen lassen braucht, steht sie doch ständig zur Verfügung.
Für das Gelingen einer Speise braucht es allerdings mehr als ausgeprägte Geschmackssinne. Wie bereits erwähnt, spielt auch Ästhetik eine entscheidende Rolle. "das Auge isst mit." - wie wir wissen. Auch die Gesamtkomposition, Textur und Details machen eine herausragende Mahlzeit zu dieser.
Wie kann es dann aber zugehen, dass es ein im Bereich des Möglichen liegender Gedanke ist, in einem Restaurant eine Peking-Ente auf einem warmen, blanken Teller serviert zu bekommen, auf dem sich nichts finden lässt? Nichts als der Geruch nach selbigem Gericht - nicht einmal in Form von sattem Dampf - allein der Geruch? Zum Preis eines Drei-Gang Menüs in einem durchschnittlichen Restaurant? Und man damit voll einverstanden und zufrieden ist?
Vielleicht, weil der Koch, der sich das rausgenommen hat, Tim Raue heißt und es die Lieblingsspeise seiner geliebten Gattin ist und man mit jedem der inhalierten Gasmoleküle etwas davon und von der steinharten, wie steilen Karriere dieses bewundernswerten Menschen zu sich nimmt?
Tim raue serviert heiße Luft und du bezahlt dafür dein gesamtes Taschengeld der letzten acht Monate.
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Auf dem Friedhof
Eine kleine Geschichte aus Frankreich erzählt von – wer hätte es geahnt – der Liebe, dem Tod und dem Leben.
Ein sich innig liebendes Paar ist nach jahrelangen Versuchen, ein Kind zu zeugen dabei, zu resignieren, als die frohe Botschaft der geglückten Befruchtung ins Haus flattert. Erfüllt vom Glück darüber, geben sie ihrem Kind den Namen Formidable.
Der heranwachsende Mensch zählt zu den zufriedenen unter seiner Gattung – selbstverständlich auch zu den glücklichen, wie manchmal auch unglücklichen. Beständig ist sein Unmut gegen seinen Namen. Er mag ihn nicht und kann die Wortspiele seiner Mitmenschen mit diesem kaum noch hören. Dennoch ist auch er beseelt von einer leidenschaftlichen Beziehung mit seiner Frau. Im hohen Alter spürt er den Tod nahen. Er richtet einen Wunsch, vielmehr eine Bitte an seine Frau. Sie möge auf seinem Grabstein, was auch immer ihr lieb ist, schreiben lassen, aber nicht seinen Namen. Bald darauf stirbt er und seine zurückgebliebene Frau weiß genau, was sie auf seinem Grabstein schreiben lässt: “Hier ruht – alleine noch, mein von mir ewig geliebter Mann, der mir immer treu geblieben – bis ich ihm folgen werde”.
Die Blumen seiner Beerdigung, gerade am Welken, kommen zwei Männer an dem Grab vorbei. Sie lesen die Inschrift und bemerken: “Regarde – c´est formidable”.
Diese kleine Anekdote möchte ich so gut ich es kann, für sich alleine stehen lassen und fasse meinen Kommentar so kurz es geht: Worauf warten?
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Ein letztes mal in der Schule oder der Ernst des Lebens (P7)
Die fünf in Mathe muss weg. Denn die fünf in Chemie ist unabänderlich. Um das Abitur zu bestehen, muss das irgendwie geschehen. Wie sieht irgendwie aus? Mathematik ist in ihrer ästhetischen Erscheinung in den Augen unserer kleinen Patientin nicht uninteressant. Aber das ändert nichts an der Fünf. Es führt kein Weg am Nachhilfeunterricht vorbei. Nachhilfeunterricht klingt einfach unmöglich. Dass das so kurz vor dem Ende noch sein muss, ist eine Bürde, wie eine Lähmung der Zunge. Verborgen hinter einem Lächeln geht. Sprechen ist beschwerlich. Aber essen ist eine widerspenstige und unappetitliche Angelegenheit. Von anfänglichen Widerständen ist überraschenderweise bald nicht mehr viel übrig. Langsam bekommt sie Gefallen am Lösen von Problemen - selbst wenn sie diese nicht zu verantworten hat. Es hat seinen eigenen Reiz, der aber nicht darüber hinweg hilft, dass ihr Übung darin fehlt. Der Nachhilfeunterricht hätte schon viel früher in Angriff genommen werden müssen. Dann würde sie allerdings heute keine Bilder malen, nicht wie sie es tut. Sie hätte nicht schon an Ausstellungen teilgenommen und Preise gewonnen. Den letzten zwar im schulischen Rahmen, was nach kindlichem Erfolg weniger großartig klingt, aber sie hat dabei mehr gewonnen, als ein paar Hundert Euro und breite Anerkennung - der Konrektor wurde im Stillen ihr größter Fan. Ihre Bilder sind für ihn Zeugnis seiner Pädagogik - die alles versucht, als zu formen oder gar zu biegen. Es handelt sich dabei um keinen Geringeren als ihren Mathematiklehrer.
Es besteht für ihn keinen Grund, sie nicht durchs Abitur kommen zu lassen. Er sieht ihren Weg. Sein Vorschlag: Sie macht mit einer seiner Klassen zu Unterrichtsbeginn bis zu den Sommerferien Yogaübungen und dafür wird er sein Übriges tun. Das bedeutet für sie, zu Unzeiten in die Schule zu müssen – kurz vor dem Ende der Schulzeit ist sie dort zu wenig Anwesenheit verpflichtet, das kann sie gut in Kauf nehmen.
Also schwingt sie sich auf ihr Fahrrad (sie hasst es immer noch, ist aber die einzige Lösung, der Zeit Herr zu werden) und fährt Richtung Schule.
Wir haben noch nie über ihr Fahrrad gesprochen. Es ist ein altes, ziemlich eingerostetes Ding, das selten eine Werkstatt sieht (dazu braucht es “höhere Gewalt”). Und so kommt es, wie es kommen muss. Die Kette springt raus (das macht sie eigentlich oft), dieses mal allerdings so, dass sie sich zwischen den Zahnrädern verkeilt. Also fummelt unsere kleine Patientin drauf los. Es bewegt sich nichts, abgesehen vom Fahrrad, das anstatt still zu stehen wackelt und kippt. Selbstverständlich hat sie kein Werkzeug dabei – welches auch? Die Kette sitzt so fest wie ihr Ärger darüber. Da nähert sich ihr ein Mann. Er hat seinen Blick auf die Wunde gerichtet und bietet, kaum ist er in Hörweite seine Hilfe an.
Bald stellt er fest - das Ding sitzt äußerst hartnäckig zwischen den Zahnrädern. Er überlegt und schlägt dann vor, weil er nicht weit entfernt wohnt - hier will sie schon zum nein danke aushohlen - dass er in einem Augenblick mit entsprechendem Werkzeug zurück sei.
Geduldig und mit Fragen über seine Motive, sich an einem sonnigen Vormittag diesem Problem so beherzt anzunehmen wartet sie. Fällt sie gerade Mal wieder auf ihre eigene Naivität herein und nimmt an, dieser Mann will nichts anderes, als mit seinen Schrauben ihr Fahrrad traktieren? Ehe sie sich für eine Antwort entscheidet kommt er zurück. Sie behält ihn in einem geheimen Winkel ihres Blicks im Auge. Er legt los. Während er auf der Straße kniend hantiert, verlassen gelegentlich Worte über den Verlauf seinen Mund. Sie versteht davon Null, bleibt aber als aktive Zuhörerin dabei. Er braucht sehr lange - motiviert gibt er sich der Sache hin. Manchmal ist ihr danach, zu sagen: Ach wissen sie, bis hierhin - haben sie vielen Dank und vielleicht ein bisschen Benzin - das Ding brennt sicher nicht ohne dabei schön auszusehen? Die Fünf! Sie muss in die Schule. Der Mann unterbricht seine Reparaturversuche. Endlich, denkt sie - er sieht ein, dass das Ding Schrott ist. “Ich bräuchte anderes Werkzeug - am besten ich nehme das Rad mit”. Perfekt! Dann ist mir dieses Scheißteil aus den Augen. Aber wie kommt sie zur Schule? Bei ihm angekommen, denkt sie, muss ich mir jetzt etwas überlegen für den Fall, dass er mir erzählt, seine Werkstatt sei in seinem Schlafzimmer, da lässt er sie samt Fahrrad im Hof vor dem Haus stehen und verschwindet im Keller. Was macht sie eigentlich noch hier? Es ist doch klar, was er will. Sie überlegt, wie sie sich aus der Situation befreit ohne seinen Ärger auf sich zu ziehen. Er ist mit Zangen und ihr unbekannten Werkzeugen zurück, operiert schwitzend und eifrig am Fahrrad. Die Hitze lähmt jeden Gedanken, der sie zu einer Entscheidung bringen könnte, sie lässt die Zeit ihr übriges tun. Er unterbricht wieder. Durst überkommt ihn. Er bietet ihr an, in seiner Küche ein kaltes Glas Wasser zu nehmen. Ihre Bedenken über seine Motive hat sie, ohne es zu wissen, gegen Gedanken über die fünf getauscht und folgt ihm in seine Wohnung. Seine Kinder, in ihrem Alter, seien alle, wie er begeisterte Radfahrer. Er lebe allein und wenig mehr erfährt sie über ihn. Als sie wieder draußen sind, macht er sich weiter ans Werk. Ihre Geduld ist am Ende. Kein Mensch kann sich ohne Grund einer solchen Quälerei hingeben. Jetzt muss sie etwas sagen. “So, das gute Stück läuft wieder!" Es habe so lange gedauert, da er für die Bauteile dieser seltenen Fabrikation, nicht das entsprechende Werkzeug hat. Das wars. Er hatte sich, nachdem er fast eine Stunde auf der Straße kniend, hin und her laufend im Schweiße seines Angesichts am Fahrrad geschuftet hatte, verabschiedet und das wars. Die erste Stunde Yoga ist damit zwar gelaufen, aber wenigstens zur zweiten wird sie es schaffen. Wer war dieser Mann? Ernst Udo Abzieher sein Name, aber ist er das auch? Diese Frage kam selten in ihren Kopf, dafür aber ein Gefühl, dass sie wenig kannte. Sie mochte Ernst. Ein freundlicher, hilfsbereiter Mensch. Sie wusste nicht viel über ihn, dafür aber, dass sie ihn mochte. Das war genug. Ein halbes Jahr später, die Schulzeit hinter sich, am 6. Dezember lässt sie es sich nicht nehmen, ihm zu danken. Eine kleine feine Auswahl verschiedener Biersorten stellt sie mit einem Gruß zum Nikolaustag vor seine Tür. Schon seltsam, diesem Nachbarn nur ein einziges mal begegnet zu sein. Wenige Tage später verlässt sie diese Nachbarschaft, diese Stadt, den Ort ihrer Kindheit. Es regnet in Strömen, So ist sie eingehüllt in eine riesige Regenjacke, schiebt ihr Fahrrad ein letztes mal in dieses Zuhause. Ohne Gefühle, wie Abschied, Vorfreude oder Angst, ganz einfach ohne Gefühle. Vielleicht hat sie sich schon längst von all dem verabschiedet. Oder Abschied war nicht nötig, weil dazu eine Verbindung nötig gewesen wäre. Zu was? Zu wem? Ihre Augen hinter der tief über ihrem Gesicht hängenden Kapuze sehen kaum den Weg, ihre Füße führen sie, in ihren Armen trägt sie das Fahrrad die Treppen zur Parallelstraße hoch, die sie oft nahezu herunter geflogen ist, ohne sich dabei zu verletzen. Die Treppen sind rutschig, das Fahrrad schwer. Eine Gestalt kommt ihr entgegen, hält vor ihr. “Lisa, wohin gehst du?”
- “Fort.”
- “Mach es gut.”
- “Werd´ ich versuchen, Ernst.”

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